Es ist ein später Novembernachmittag. Draußen geht ein feiner kalter Nieselregen nieder, Wolken verdunkeln den Himmel. Auch die Stimmung von Herrn und Frau Z., die mir in meiner Beratungspraxis in Hamburg gegenüber sitzen, ist düster. Frau Z. ist mir seit einigen Beratungsgesprächen bekannt, in denen es um die Besorgnis erregende Entwicklung ihres Sohnes Fabian ging. Von Herrn Z. habe ich zuvor nur aus ihren Erzählungen gehört. Er war bisher nicht bereit, mit zu den Sitzungen zu kommen. Das müsse man doch wohl allein hinbekommen – so gab mir Frau Z. seine Überzeugung wieder. Nun aber haben die jüngsten, eskalierenden Ereignisse um Fabian auch Herrn Z. veranlasst, sich wenigstens einmal eine Expertenmeinung anzuhören. Entscheiden wolle er dann selbst, wie er deutlich betont. Ich selbst bin froh, Herrn Z. endlich kennenzulernen. Schließlich ist er als Teil des Familiensystems unweigerlich auch ein Teil des Problems. „Wir wissen nicht mehr weiter, Herr Wulff“, ist der einleitende Satz von Frau Z. jetzt, an diesem Novembernachmittag. „Fabian ist endgültig außer Kontrolle geraten“, beeilt ihr Mann sich zu sagen, nicht ohne einen strafenden Blick zu seiner Frau.
Dann erzählen beide von den Ereignissen des gestrigen Abends und der Nacht. Sie spricht verzweifelt, meist hilflos, manchmal weinend; er distanziert, verständnislos. Manchmal kommt er in Rage, entschuldigt sich dann aber schnell, und scheint – sich zurücklehnend – für einen Moment aus unserem Gespräch auszusteigen. Der Schilderung zufolge ist Fabian gestern, nach einem heftigen Streit mit seinem Vater wütend aus dem Haus gegangen. „So schlimm haben die beiden noch nie gestritten“, sagt Frau Z., und empört fügt ihr Mann hinzu: „Obwohl ich es ihm untersagt habe, ist er einfach gegangen.“ Um 23 Uhr war der Junge noch immer nicht zurückgekehrt. Frau Z. habe sich große Sorgen gemacht: „Ich hatte Angst, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte.“ „Das hast du ja immer“, erwidert ihr Mann. „Das war ja dann auch so“. In ihrer Entgegnung schwingt Empörung, fast Wut. Herr Z. guckt seine Frau an, dann zu Boden, schließlich lehnt er sich wieder in seinem Sessel zurück und schweigt für eine Weile. Um halb eins habe die Familie einen Anruf von der Polizei bekommen. Ihr Sohn sei in Gewahrsam, man habe ihn verhört, nun aber könne er abgeholt werden.
Eine halbe Stunde später, auf dem Revier, ergabt die Schilderung der Polizisten folgendes Bild: Fabian ist in das Gebäude seiner Schule eingedrungen, hat eine Glastür und einige Vitrinen in der Eingangshalle zerschlagen sowie Wände, Türen und Mobiliar mit Lackfarbe beschmiert. Während des Erzählens spiegelt das Gesicht von Frau Z. das Entsetzen wieder, das sie in der Nacht auf dem Polizeirevier empfunden haben muss. Auf dem Weg nach Hause habe Fabian kein Wort gesprochen. Zu Hause sei er gleich in seinem Zimmer verschwunden und habe sich eingeschlossen. „Am nächsten Morgen ist er erst herausgekommen, als mein Mann das Haus verlassen hat. Aber auch dann wollte er nicht sprechen“, sagt Frau Z. Ihr Mann schüttelt den Kopf. Er hat Fabian an diesem Tag noch nicht gesehen. Das Paar ist gleich nach dem Arbeitsschluss von Herrn Z. in meine Beratungspraxis gekommen. „Und nun ist guter Rat teuer“, sagt Fabians Vater mit einem suchenden Blick in meine Richtung. Ob der Rat für ihn teuer würde, konnte ich noch nicht sagen. Immerhin war er ihm wichtig, denn er saß nun, gegen seine eigentliche Überzeugung, bei mir in der Praxis.
Dabei war es ursprünglich Herr Z. gewesen, der vor etwa vier Wochen bei mir angerufen hatte. Sein Sohn weise ein ungewohntes, „absonderliches“ Verhalten auf, seine Frau käme mit dem Jungen nicht mehr zurecht. Sie brauche dringend einen Termin, um über alles sprechen zu können. „Und was ist mit Ihnen?“, fragte ich „Wollen Sie nicht dabei sein?“. Nein, dazu fehle ihm die Zeit, er sei Unternehmer, und im Übrigen überlasse er das mit den Jungen weitgehend seiner Frau. Warum dann seine Frau mich nicht anruft, wollte ich wissen. „Solche Dinge regele ich“ gab er zurück. Damit lässt Herr Z. zwar meine Frage unbeantwortet, seine Reaktion liefert aber wichtige Anhaltspunkte, um das Verhalten von Fabian zu verstehen.
Als ich ein paar Tage nach diesem Telefonat mit Frau Z. zusammensaß, begegnete sie mir zunächst vorsichtig, fast ein bisschen ängstlich. Zögernd erzählte sie mir von ihrem 14-jährigen Sohn Fabian, dem Älteren ihrer beiden Söhne. Im Unterschied zu dem 12-jährigen Rajan, dem Sonnenschein der Familie, sei Fabian eher der Vernünftige gewesen. Frau Z. beschrieb Fabian als „immer schon eher ernst und zurückhaltend, aber nicht schüchtern“ und fügte hinzu: „Mein Mann war immer stolz darauf, wie Fabian sich die Dinge erst genau überlegt, bevor er handelt. Ja, eigentlich war Fabian immer eher sein Kind. Ich selbst fühlte mich etwas mehr Rajan verbunden, der uns immer mit seiner guten Laune, seinen Scherzen und lustigen Streichen amüsierte.“
Ihre Schilderung der problematischen Entwicklung Fabians begann Frau Z. mit den Worten „Eigentlich hätte ich schon vor einem Jahr kommen müssen.“ Während sie dann erzählt, höre ich ihr zu, ohne sie zu unterbrechen. In mir entsteht folgendes Bild: Im letzten Sommer hat Fabian angefangen sich zu verändern, indem er sich fast vollständig von allen zurückzog. Er wollte nur noch in seinem Zimmer sein. Entweder hat er gelesen oder am Computer Online-Spiele gespielt. Frau Z. hat ihrem Sohn damals keinen Riegel vorgeschoben, sie wollte ihm nicht noch den letzten Kontakt zu anderen Menschen nehmen. Außerdem hat Fabian, der in der Schule schon immer recht gut war, hier noch einmal einen Sprung gemacht. Ganz zur Freude des Vaters standen in seinem Zeugnis am Ende des Schuljahres fast nur Einsen. Fabian allerdings schien ohne Freude durch den Sommer zu gehen. Ein halbes Jahr später, in den Wochen nach Weihnachten, wechselte die Richtung seiner Veränderungen. Er fand Anschluss an eine Gruppe Jugendlicher – alle mindestens ein Jahr älter als er selbst. Einige kannte er aus seiner Schule, die meisten aber besuchten die Hauptschule. Fabians Vater hielt die Kinder für einen schlechten Umgang, und er versuchte, seinen Sohn entsprechend zu beeinflussen. Der aber hörte nicht auf ihn, ging stattdessen zunehmend öfter aus dem Haus, ohne sich zu verabschieden. Das kannte Frau Z. bisher nicht von ihrem Sohn. „Heimlichkeiten gibt es in unserer Familie nicht, auch abgeschlossene Türen nicht“, so ihre Worte. Nachdem Fabian zum ersten Mal einfach seine Tür verschlossen hatte, gab es einen ersten heftigen Streit zwischen ihm und dem Vater. In den folgenden Wochen verlor Frau Z. immer mehr den Zugang zu dem Jungen. Er sagte ihr nicht mehr, wohin er gehe und kam oft später als vereinbart nach Hause. Seit Fabian einmal sogar erst nach neun zu Hause eintraf, änderte sich die Dynamik der Streits mit dem Vater. Früher, wenn der Vater seinen Sohn angebrüllt hatte, fing dieser zu weinen an, und der Vater beruhigte sich dann immer schnell. Neuerdings verfällt Fabian in Schweigen und wendet sich trotzig ab. Das provoziert Herrn Z., immer mehr zu brüllen. Für Frau Z. ist das jedes Mal schrecklich, und es fühlt sich in letzter Zeit an, als endeten die Streits gar nicht mehr. Ansonsten, am Frühstückstisch zum Beispiel, herrscht brütendes Schweigen zwischen Fabian und seinem Vater, und am Abend verschwindet der Junge in seinem Zimmer, bevor der Vater von der Arbeit kommt.
Als Frau Z. geendet hatte, fragte ich sie nach ihrem Mann. Ich wollte wissen, was sie glaubt, warum er an unseren Gesprächen nicht teilnehmen möchte. „Jens ist ein sehr korrekter Mensch, er will die Dinge unter Kontrolle haben. Er stammt aus kleinen Verhältnissen, seine Eltern sind nur Verkäufer“ begann Frau Z., ihren Mann zu beschreiben. „Seit fast 20 Jahren ist er nun Arzt. Sein Studium hat er sich mit Fleiß und Disziplin erarbeitet. Seinen Facharzt hat er in der kürzest möglichen Zeit gemacht und sich dann sofort niedergelassen. Heute arbeitet er jeden Tag 11 Stunden. Morgens um 8 Uhr ist er pünktlich in der Praxis und abends um 19 Uhr fährt er von dort nach Hause. Am Freitag schließt die Praxis um 14 Uhr. Dann erledigt er Büro-Arbeiten und verlässt auch dann die Praxis erst um sieben.“ Als Frau Z. ihren Mann kennen lernte, hatten ihr sein Fleiß und seine Disziplin sehr imponiert. Denn in ihrer Familie waren das keine wichtigen Tugenden. Ihre Mutter habe niemals viel arbeiten müssen, nachdem sie eine Fabrik und mehrere Mietshäuser von ihren Eltern geerbt hatte. Ihr Vater habe noch vor ihrer Geburt seine Arbeit aufgegeben und der Mutter geholfen, die Wohnungen zu verwalten. „Bei uns zu Hause wurde viel gelacht, und jeder hat gemacht, wozu er Lust hatte. Mein Vater hat viel Golf und Tennis gespielt, und meine Mutter hat gemalt und Ausstellungen gemacht. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie je ein Bild verkauft hat, aber sie hat gerne gemalt. Und in jeden Ferien haben wir Urlaub gemacht.“
Schließlich erfuhr ich, wie Frau Z. ihren eigenen beruflichen Werdegang sieht: Sie wäre auch gern Medizinerin geworden, hat aber das Abitur nicht geschafft. „Ich konnte nicht lernen, und bei uns zu Hause hat mich da auch keiner zu angehalten“ – noch heute klingt mir das Bedauern in ihren Worten nach. So hat sie mit einem mittelmäßigen Realschulabschluss erst einmal nur eine Ausbildung zur Arzthelferin gemacht. Danach landete sie in der Praxis ihres Mannes und arbeitete dort bis zur Geburt von Fabian. Er liebte ihr analytisches Denken und ihre schnelle Auffassungsgabe. Außerdem beeindruckte ihn wohl, wie sehr sie sich für die Praxis eingesetzt hat. Ihr Mann wollte eigentlich, dass sie nach der Geburt von Fabian schnell wieder zurück an die Arbeit geht. Ihre Pläne jedoch entwickelten sich anders: Sie wollte ihr Abitur nachmachen und dann doch noch Medizin studieren. Dass ihr Mann davon nichts wissen wollte, führte zum ersten, allerdings auch einzigen echten Streit während ihrer Ehe. Am Ende nahm Frau Z. Abstand davon, Abiturkurse zu besuchen, kehrte aber auch nicht wieder in die Praxis zurück. „Ich habe es ihm damals übel genommen, dass er mich nicht unterstützt hat, später aber auch mir selbst, dass ich auf ihn gehört habe.“ Fortan konzentrierte sie sich auf ihre Aufgaben als Mutter, kümmerte sich um Fabian und um den später geborenen Rajan. „Ich bin immer für sie da gewesen. Mit den Jungen habe ich immer Glück gehabt, nie haben sie mich wirklich enttäuscht – bis jetzt. Die Beiden sind zwar ganz unterschiedlich, aber beide konnten sich dem Vater gut unterordnen, haben immer auf ihn gehört. Auch mir selbst haben sie nie Schwierigkeiten gemacht“, sagt Frau Z. „Was wäre denn für Sie schwierig gewesen“, habe ich sie gefragt. „Wenn ich hätte viel ‚Nein‘ sagen müssen.“ Sie könne sich nicht durchsetzen, das habe sie noch nie gekonnt. Aber die beiden Jungen seien eigentlich eher bescheiden und übertreten selten Regeln, jedenfalls nicht ernsthaft. Bisher jedenfalls sei es so gewesen.
Und nun sitzen sie doch beide vor mir, Herr und Frau Z., an diesem grauen Novembertag. Sie erwarten Rat von mir. „Wie sollen wir Fabian wieder unter Kontrolle bringen?“, fragt Herr Z., und seine Frau: „Was sollen wir bloß tun?“ Natürlich gibt es hier kein Patentrezept, insofern kann ich den erwarteten Rat nicht geben. Das sage ich den beiden klar und deutlich. Aber ich habe eine erste Ahnung, was hier von Nöten ist – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Und das reicht aus, um den beiden Eltern eine Perspektive zu skizzieren:
„Ich biete Ihnen an, Sie bei einem Umbauprozess zu unterstützen. Bisher hatten Sie Erziehungsprinzipien, die gut funktioniert haben. Zusammenfassen möchte ich sie so: auf der einen Seite grenzenlose Zuwendung und Wohlwollen. Auf der anderen Seite klare Regeln, Disziplin und Stolz auf die Söhne. Ihre Jungen haben gelernt zu tun, was von Ihnen erwartet wird. Sie können sich anpassen und Rücksicht nehmen, sind bescheiden und ihrem Alter entsprechend vernünftig.“ Herr Z. nickt. „Jetzt durchleben Ihre Söhne die Pubertät; sie werden Jugendliche. Da brauchen sie etwas anderes von Ihnen. Bei Fabian fängt es an, aber auch Rajan wird Ihnen bald andere Strategien abverlangen. Damit Sie Ihre Kinder weiterhin sinnvoll in ihr eigenes Leben begleiten können, müssen Sie beide umdenken. Sie beide müssen Strategien, Erziehungskompetenzen lernen, die Ihnen bisher nicht aktiv zur Verfügung stehen. Ich kann Sie bei diesem Prozess begleiten, und würde das auch gern tun. Ich bin sicher, wenn wir drei gut zusammenarbeiten, wird Fabian andere Wege finden sich zu entwickeln, eigenständig und erwachsen zu werden, anstatt derart über die Grenzen zu treten, wie er das gestern getan hat.“
Tatsächlich wollten sich Herr und Frau Z. beide auf den neuen Weg einlassen und meine Begleitung annehmen. Heute arbeite ich seit mehr als einem Jahr mit ihnen. Fabian steht allerdings schon lange nicht mehr im Brennpunkt. Meine beiden Klienten holen sich zunehmend auch Anregungen und entwickeln neue Strategien für ihre Partnerschaft. Für den Umgang mit ihren Söhnen haben sie ihre Paar- und Erziehungskompetenzen erheblich erweitert.
Was aber letzten Endes Fabian geholfen hat, das möchte ich Ihnen in einem nächsten Text erzählen.