Eigentlich sollte es um die Vorbereitung auf ein Assessment-Center gehen, als Helmuth K. aufgebracht zu mir, Torsten Wulff, in die Sitzung kam. „Dazu möchte ich einen anderen Termin vereinbaren; jetzt muss ich Ihnen von meinem Sohn erzählen. Der hat mich belogen, das hat er noch nie getan!“ begann er sichtlich empört.
Der Junge aus dem Raum Hamburg ist gerade 14 Jahre alt geworden. Bereits vor einigen Wochen hatte der Vater eine Sitzung zur Erziehungsberatung verwendet, weil er eine „Aufsässigkeit“ bei seinem Sohn bemerkt hatte, die er glaubte unter Kontrolle bringen zu müssen. Und nun das! Die Lüge war erst am Abend zuvor aufgedeckt worden; das dazu fällige „ernste Gespräch“ hatte der Vater seinem Sohn für den nächsten Tag nach der Schule angekündigt. Dafür sollte ich ihm nun ein paar Tipps geben.
„Haben Sie schon einmal gelogen?“, fragte ich ihn. „Ja, natürlich!“, antwortete Herr K. spontan, mit einem verschwörerischen Lächeln. Warum das eigentlich natürlich sei, wollte ich wissen. „Na ja, es gibt halt doch immer Situationen, in denen man besser nicht die Wahrheit sagt. Manchmal ist es sogar wichtig, nicht jedem gleich die Wahrheit zu erzählen. Eine Frage von Personenschutz, oder?“ Hier sind wir uns einig, und das ist eine gute Grundlage für das weitere Gespräch, denke ich bei mir und beschließe, mir nun die Geschichte aus der Region Hamburg erzählen zu lassen.
Vor einigen Wochen hatte Paul, der Sohn meines Klienten, zum ersten Mal gefragt, ob er nicht gleich nach der Schule ins Jugendzentrum gehen könnte. Dort könne er für einen angemessenen Beitrag Mittag essen, sein Freund und Klassenkamerad Vincent dürfe das auch. Nach kurzer Überlegung erlaubten die Eltern Paul, am kommenden Tag im Jugendzentrum zu essen. Am anderen Morgen gab die Mutter ihm das dafür nötige Geld. Am Nachmittag erzählte er von seinen Stunden im Jugendzentrum – auch davon, was es dort zu essen gab. Die gleiche Geschichte wiederholte sich in der folgenden Woche und letzte Woche gab es einen solchen Tag im Jugendzentrum. Jedes Mal nahm Paul das Geld und erzählte am Nachmittag vom Jugendzentrum. „Er sagte sogar, dort schmecke ihm das Essen besser als in der Schule!“, empörte sich Herr K.
Vielleicht ahnen einige Leser schon, genau wie ich es tat, welcher Art die Lüge sein könnte, über die mein Klient so aufgeregt war? Vor allem als er zwischendurch ausrief: „Eigentlich hat er uns sogar bestohlen!“, war für mich die Sache klar: Der Sohn hat im Jugendzentrum gar nicht zu Mittag gegessen, war womöglich nicht einmal dort. Aber die Wahrheit – sie war dann doch tiefgreifenden als meine Vorahnung. Vor allem gab es viel über das Thema Eltern und Kinder in einer der wichtigeren Ablösungsphasen zu erfahren.
Herr K., der sich gerade in Rage redete, fuhr fort: „Mein Sohn war aber überhaupt nicht im Jugendzentrum! Gestern habe ich den Vater von Vincent getroffen. ‘Na, wir haben aber zwei Früchtchen großgezogen‘, hat der zu mir gesagt. ‚Wieso?‘, habe ich zurückgefragt. Und er erzählte, dass unsere beiden Söhne bereits zum dritten Mal wegen schlechten Benehmens und Stören des Unterrichts in der Schule nachsitzen mussten. Hellhörig geworden, rief ich später die Klassenlehrerin an. Ich erfuhr, dass beide Jungen in der letzten Zeit aufsässig seien, dass sie andere Kinder durch Scherze, oft auf deren Kosten, vom Unterricht ablenkten. Und dass sie sich über falsche Antworten anderer Kinder im Unterricht lustig machten. Deshalb haben die Lehrer der Klasse gemeinschaftlich, nun bereits zum dritten Mal, beschlossen, Vincent und Paul nachsitzen zu lassen. Und ahnen Sie, an welchen Tagen?“, will Herr K. nun von mir wissen. Ja, ich ahne es!
Es hatte Herrn K. sichtlich gut getan, die Geschichte so ausführlich erzählen zu können. Dass nun nicht mehr viel Zeit für Tipps von meiner Seite blieb, war unproblematisch. Denn es war gar nicht viel nötig, um eine positive, alle Beteiligten bereichernde, Wendung herbei zu führen. Ich erinnerte Herrn K. an den Beginn unseres Gesprächs. Ja, er habe auch schon die Unwahrheit gesagt. Aber grundsätzlich gelte ihm Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit doch eine Menge. Außerdem habe ihr Sohn Geld angenommen und es wahrscheinlich für unnützes Zeug ausgegeben.
„Aber Sie räumen ein, dass es gute Gründe geben kann, weshalb ein Mensch wie Sie von seinen Grundsätzen der Wahrheit abweicht?“, fragte ich meinen Klienten. „Ja!“ „Und Sie räumen ebenfalls ein, dass Sie die Hintergründe der Lügen Ihres Sohnes noch nicht wirklich kennen?“, will ich weiter wissen. „Jedenfalls nicht seine Erklärungen, aber darauf bin ich nun auch sehr gespannt.“, antwortete er. „Könnte es sein, dass Ihr Sohn gute Gründe für seine Lügen hat, die auch Sie einsehen könnten?“, ist meine dritte Frage. „Theoretisch schon“, räumt Herr K. ein, „ich kann mir aber keinen guten Grund vorstellen. Er hat von uns Geld genommen und wahrscheinlich ausgegeben. Dafür gibt es keinen Grund“, war er überzeugt. „Nun gut“, sagte ich, „ich schlage Ihnen vor, mit der offenen Haltung eines ‚Es-könnte-sein‘ in das Gespräch mit Ihrem Sohn gehen.“
Der Klient und ich, Torsten Wulff, vereinbarten für ein paar Tage später einen Termin zum Assessment-Center-Training. Herr K. bat darum, etwas Zeit für die Entwicklung der Geschichte von Paul einzuplanen. Dieser Bitte kam ich sehr gern nach, schließlich bin ich als Psychologe an der Fortsetzung sehr interessiert.
Am Ende eines humorvollen Trainingstages kommt mein Klient auf die Geschichte von Paul und Vincent zurück: „Ich danke Ihnen für Ihren Rat, zunächst neugierig auf die Geschichte aus Sicht meines Sohnes zu sein, bevor ich ihn bestrafe. Ich weiß nicht, ob das Ganze sonst ein gutes Ende genommen hätte.“ Herr K. hat folgendes zu berichten:
Paul sei sehr kleinlaut zum klärenden Gespräch erschienen. Herr K., der sich nach unserem Gespräch vorgenommen hatte, seinen Ärger hintenan zu stellen, habe an seinen Sohn nur eine Frage gehabt: „Hast du einen guten Grund dafür, mich und deine Mutter zu belügen?“ Ja, den habe er; allerdings sei er nicht sicher, ob auch der Vater diesen Grund akzeptieren würde: Vincent und er hätten in der letzten Zeit in der Schule reichlich Blödsinn gemacht und dafür Nachsitzen aufgebrummt bekommen. Aber das war nicht die einzige „Strafe“. Die Deutschlehrerin habe einen langen Vortrag gehalten darüber, wie unsozial die Beiden gewesen seien. Der Klassenlehrer habe sie entnervend lange ausgefragt, ob ihnen der Unterricht keinen Spaß mehr machen würde. Und der Sportlehrer habe sie in einer Sportstunde nicht am Basketballspiel teilnehmen lassen. „Paul fand, für seine Taten genug Strafe bekommen zu haben“, berichtet Herr K. weiter. (Ich kann ihm dabei das Wohlwollen seinem Sohn gegenüber im Gesicht ablesen.) „Paul hat sich vorgestellt, was er sich auch noch von seinen Eltern würde anhören müssen“, fährt mein Klient fort. „Um das zu vermeiden, haben er und Vincent sich die Sache mit dem Jugendzentrum ausgedacht.“
Herr K. fand diese Begründung einleuchtend und akzeptabel, sagt er mir. Er weiß, dass Paul Recht hat. Tatsächlich hätte er ihm in seiner Rage einen langen Vortrag gehalten. Und wahrscheinlich hätte er sich eine empfindliche Strafe ausgedacht. Das wäre aber nach allem, was in der Schule schon unternommen worden war, nicht nötig gewesen. Er -der Vater – habe daraus gelernt und sich entschieden, sich auf die Wirksamkeit von pädagogischen Maßnahmen, die Lehrer bezüglich Vorfällen in der Schule ergreifen, zu verlassen. Da muss er sich nicht mehr einmischen. Hier stimme ich deutlich zu. „Aber wozu hat er das Geld gebraucht?“, frage ich nach. „Das habe ich Paul auch gefragt, und dann habe ich verstanden, dass die „Lüge mit dem Jugendzentrum“ anders nicht funktioniert hätte“, erklärte Herr K.: Paul habe ja nicht um das Geld gebeten. Aber als die Mutter es ihm gab, habe er es nicht ablehnen können; ansonsten hätte er ja gleich die Wahrheit sagen können. „Wir haben allerdings vereinbart, dass er das Geld, das er tatsächlich für Süßigkeiten und Comics ausgegeben hat, in Raten von seinem Taschengeld zurück zahlt“, fügt Herr K. hinzu.
Was für eine Geschichte!
Zunächst gilt mein Respekt dem Vater. Er hat es geschafft, über den Schatten seines ersten Ärgers zu springen, indem er eine neugierige und alles klärende Frage stellte – statt einen Vortrag zu halten und zu strafen. Außerdem glaube ich, dass nicht jeder Vater eine Erklärung wie die von Paul so wohlwollend akzeptiert hätte.
Vor allem aber freut mich seine Entscheidung, bei Maßnahmen der Lehrer nicht mehr eingreifen zu wollen. Denn ich denke nicht nur, dass die Strafen der Schule ausreichend sind. Darüber hinaus meine ich, dass ein 14-jähriges Kind Auseinandersetzungen allein führen und selbst entscheiden darf, wen er daran beteiligen möchte. Die Haltung der Lehrer scheint Ähnliches zu signalisieren, denn auch die hatten ja bisher darauf verzichtet, die Eltern von dem Fehlverhalten ihres Sohnes zu informieren. Jede weitere Grenzsetzung, zum Beispiel durch zusätzliche Maßnahmen der Eltern, schränkt den Raum ein, der für die Entwicklung eines 14-Jährigen zu einem selbstverantwortlichen und eigenständigen Menschen nötig ist.
Und damit bin ich bei Paul, dem Erfinder der Geschichte aus Hamburg. Mit der Lüge befreite er sich instinktiv aus einer Not – einer Not, die durch eine potenzielle Begrenzung seines Entwicklungsraumes durch Erziehungsmaßnahmen der Eltern entstand. In diesem Sinne ging es auch bei dieser Lüge um „Personenschutz“ – ein Wort, das Herr K. zu Beginn unseres Gesprächs benutzte und dass ich abschließend gern aufgreife. Denn es ging um nichts weniger als den Schutz der reifenden Autonomie seines Sohnes Paul!
Dipl.-Psychologe Torsten Wulff