Eltern und Pädagogen sind sich im Grunde einig: Kinder, Heranwachsende brauchen Grenzen. Und Erziehung bedeutet, Grenzen zu setzen. Zugleich wollen wir Eltern heute, dass unsere Kinder sich zu selbstbewussten und selbst denkenden Menschen entwickeln. Dafür braucht es Räume, die Heranwachsende selbst erkunden können. Erziehung bedeutet deshalb auch, (Entwicklungs-)Räume zu schaffen. Eine gute Balance zwischen Grenzen und Räumen zu finden – das ist das A und O der Erziehungskunst.. Dabei ist es in keinem Alter des Kindes leicht zu beantworten, wann im konkreten Einzelfall welche Grenzen zu setzen sind. Am schwierigsten ist das Spiel zwischen Räumen und Grenzen in der Pubertät unserer Kinder, zumal uns diese Phase – richtiger Weise – so bedeutsam erscheint.
Anders als bei jüngeren Kindern stehen uns zunehmend weniger sinnvolle Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung. Denn während der Pubertät ist die Verbindung zwischen Eltern und Heranwachsenden oft wie ein Faden kurz vor dem Zerreißen dünn. Mit Sanktionen wie Stubenarrest, Internet-Verbot oder Taschengeldentzug riskieren Eltern oft die Zerreißprobe. Wie aber können Eltern dennoch die Entwicklung der jugendlichen Kinder fördern und ihrer Fürsorgepflicht gerecht werden?
Ein Beispiel aus meiner Praxis als Elterncoach und Familientherapeut:
Ein 13-Jähriger aus der Nähe von Hamburg hatte mit seiner Mutter verabredet, um neun zu Hause zu sein. Kurz vor neun ruft er an: Er könne erst um zehn zu Hause sein, die Bahnverbindung sei so schlecht. Auf ungläubiges Nachfragen erfährt die Mutter, dass ihr Sohn nicht, wie vorher gesagt, in einem Supermarkt des Ortes mit Freunden zum Shoppen sei. Er sei in die nahe Stadt gefahren und habe die längere Rückfahrt nicht kalkuliert. Die Mutter ärgert sich nun über die eigenmächtige Fahrt in die Stadt mehr als über das längere Ausbleiben des Sohnes. „Wir hatten die Vereinbarung, dass er immer anruft, wenn er den Ort wechselt“, sagt sie.
Eine Vereinbarung mit dem Sohn über die Zeit der Rückkehr zu treffen, ist angemessen. Der Sohn akzeptiert sie offensichtlich auch, sonst hätte er nicht angerufen, um der Mutter die Verspätung anzukündigen. Übertrieben ist dagegen die Vereinbarung, die Mutter über jeden Ortswechsel auf dem Laufenden zu halten. (Der Sohn ist mit der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel vertraut.)
Im Beratungsgespräch nennt die Mutter ihre Beweggründe für diese Vereinbarung: „Ich habe Angst, dass er in eine Schlägerei gerät und so richtig was auf die Fresse kriegt.“ Sie will ihren Sohn also schützen. Das Bedürfnis ist nachvollziehbar, keine Frage. Das Mittel jedoch, mit dem sie dieses eigene Bedürfnis zu erfüllen versucht, ist aus pädagogischer und entwicklungspsychologischer Sicht für einen Dreizehnjährigen nicht angemessen.
Pubertierende probieren sich aus. Ihre Entwicklung zum Erwachsenen kann nur geschehen, indem sie die Begrenzungen, die ihnen durch ihre Umwelt gesetzt werden, in Frage stellen. Sie rebellieren gegen Regeln, Konventionen und elterliche Vorschriften. Das ist so, und das ist gut so! Erst recht, wenn wir Eltern Kinder in die Welt entlassen wollen, die sich nicht alles sagen lassen, die sinnlose Vorschriften auch mal hinterfragen, die ihre Meinung durchsetzen können. Dafür müssen Heranwachsende auch erfolgreich sein in ihrem Bestreben, ihre Begrenzungen zu verschieben oder gar zu durchbrechen. Gerade in der Phase der Pubertät. Nur so können sie die Räume für ihre Entwicklung und Selbstverwirklichung erweitern.
Die Vereinbarung, einen Ortswechsel immer bei der Mutter anzukündigen, schränkt einen Dreizehnjährigen, der mit Freunden unterwegs ist, und dem man ein altersgemäßes Verantwortungsbewusstsein zutrauen kann, unnötig ein.
Das Beispiel zeigt aber noch mehr: Genauso wichtig wie die erfolgreiche Verschiebung von Begrenzungen ist es zu lernen, mit Unabänderlichem umzugehen: mit unverrückbaren Grenzen oder mit der Tatsache, dass ein Anderer stärker ist. Bei kleinen Kindern sind es die elterlichen Regeln, die in angemessener Weise die Existenz von Grenzen erfahren lassen: kein Spiel mit den zerbrechlichen Porzellantassen, keinen Bonbon vor dem Essen, kein Fernsehen vor den Hausaufgaben. Im Pubertätsalter aber haben die elterlichen Möglichkeiten einzugreifen nicht mehr das Potenzial, diese Erfahrung zu gewährleisten.
Und wie erlernen die Jugendlichen dann den Umgang mit unverrückbaren Grenzen? Indem sie sich die Hörner daran abstoßen, eine Niederlage erleiden, oder etwas drastisch ausgedrückt: indem sie einfach mal auf die Fresse kriegen. Das dürfen Eltern zulassen anstatt – wie die Mutter in unserem Beispiel – einen Schutzwall davor zu bauen. Zu ihrer Fürsorgepflicht gehört es, (auch schon früher) dafür zu sorgen, dass Kinder sich ausreichend selbst schützen können.
In der Beratung erkannte die Mutter, dass es in der Auseinandersetzung mit ihrem Sohn vor allem um ihr eigenes Bedürfnis ging. Mit ihren Kontrollversuchen wollte sie ihrer eigenen Angst begegnen und dem unrealistischen Wunsch, jeden Schaden von dem Sohn abzuwenden. Viel zu oft dienen Auseinandersetzungen mit Pubertierenden dazu, die Bedürfnisse der Eltern zu erfüllen. Auf der richtigen Seite aber sind wir in diesen Auseinandersetzungen erst, wenn sie wahrhaft dem Wohl der Kinder dienen, und das heißt: ihre altersspezifische Weiterentwicklung fördern. Nur dann sind wir in der Lage, unser Kind in schwierigen Entwicklungsphasen zu unterstützen.
Dipl.-Psychologe Torsten Wulff